Warum spielen wir böse Charaktere?

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M_Effect
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Warum spielen wir böse Charaktere?

Beitrag von M_Effect »

Hallo an alle :)

Ich studiere Kultur- und Sozialanthropologie und möchte im Rahmen einer Übung eine Feldforschung (so gut das eben während Corona geht) machen zu dem Thema
"Worin liegt der Reiz, in Pen and Paper Rollenspielen einen böse gesinnten Charakter zu spielen? Wie funktioniert die Umsetzung? Wie ist die Selbstwahrnehmung der Spieler dazu?"

Aus diesem Grund bin ich an Euren persönlichen Erfahrungen interessiert.
Habt Ihr bereits einen bösen Charakter verkörpert?
Habt Ihr eine Gruppe böser Charaktere geleitet?
Worin lag für Euch der Reiz, jemand bösen zu verkörpern?
(Wie) Hat das funktioniert?
Was ist Eure Selbstreflexion dazu?

Ich würde mich sehr darüber freuen, Eure Geschichten zu hören und da ich das im Rahmen meines Studiums möglichst professional machen möchte und ich Eure Privatsphäre schätze, werden selbstverständlich jegliche Aussagen anonymisiert werden.
Santiago
Spielleitung
Beiträge: 1382
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Re: Warum spielen wir böse Charaktere?

Beitrag von Santiago »

Kurze Gegenfrage dazu: ab wann gilt ein Charakter für Dich als böse bzw. was definiert den "bösen Charakter"?
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M_Effect
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Re: Warum spielen wir böse Charaktere?

Beitrag von M_Effect »

Das ist eine gute Frage. Ich als Spieler würde von dem Standpunkt Ethik/Moral aus argumentieren (also im klassischen Gesinnungs-System weder gut noch neutral), aber ich denke gerade da hat auch jeder selber eigene Vorstellungen.
Und gerade das ist es, was mich interessiert. Wenn Du mir von Deinem bösen SC erzählst und der Motivation dahinter
und ich denke mir, so böse ist der Charakter gar nicht; dann ist deine Aussage ja nicht falsch, sondern ich lerne neue Denkweisen kennen.
Santiago
Spielleitung
Beiträge: 1382
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Re: Warum spielen wir böse Charaktere?

Beitrag von Santiago »

Erfahrungen haben gezeigt, daß "böse" Charaktere eben als böse gelten, weil sie in aller erster Linie auf ihren eigenen Vorteil aus sind und ihre persönlichen Ziele ohne Rücksicht auf Verluste erreichen wollen.

In meinen Runden, in denen böse Charaktere gespielt wurden oder die komplett darauf angelegt waren, wurde es meistens angegangen, weil man es leid war immer den goody good Helden zu spielen, bei dem quasi von vorn herein durch seine Ansichten festgelegt war, daß er das Dorf rettet, die Jungfrau befreit, den Schatz spendet, die Fenster putzt, den Müll rausträgt usw. Insofern war es einfach mal der Reiz etwas "anderes" auszuprobieren. Meines Erachtens für einige Spieler eine wertvolle Erfahrung, da dadurch auch die Hemmungen abgelegt wurden, verschiedene Aktionen nicht durchzuführen. Als böser Charakter konnte man endlich mal tun und lassen was man wollte.
Das pflanzte sich dann auch in die üblichen Charaktere und Spiele fort, weil einfach nicht mehr so einseitig sondern realer gespielt wurde. Erwähnte Hemmungen wurden fallen gelassen und man wußte damit umzugehen, daß die Dorfbewohner einem nicht gerade wohlgesonnen waren, wenn man sich, statt brav im Bett zu schlafen, mit den verheirateten Damen einlies o.ä.

Auf Dauer lässt es sich meiner Meinung nach nicht richtig als Kampagne ausspielen. Habe noch keinen glaubwürdigen bösen Charakter erlebt, dessen gleichgestellte Mitstreiter für ihn nicht nur Mittel zum Zweck und austauschbar sind, so daß man sich auf Dauer eh gegenseitig im Stich lassen würde oder gar hintergeht. Sowas wird besonders deutlich, wenn es der einzige Charakter in der Gruppe ist, welche ihn dann nach kurzer Zeit ausschließt, zurücklässt usw. Bei einer kompletten Runde an bösen Charakteren müsste sowas in Geschichte und Welt schon vor dem Spiel sehr gut eingebaut und verankert werden, damit es annähernd klappt.

Hatte diesbezüglich mal eine Warhammer Skavenrunde. Sehr spaßig. Aber durch eben die Ansichten, daß sowieso alle hinter einem her seien, die eigenen Aktionen boykottieren wollen, während man selber versucht in der Gesamthierarchie aufzusteigen und alle anderen schlecht dastehen lässt, ging es schon in ein ziemliches Spieler vs. Spieler über.
Ähnliche Erfahrungen bei Vampire, wo sogar in den Beschreibungen der Spielwelt erwähnt wird, daß sich gerade alte Vampire durch ihre Unsterblichkeit zu langweilen beginnen und demnach auf ihre Machtspielchen untereinander zurückgreifen. Kurzfristig ist es ok, daß alle gut miteinander auskommen, aber auf lange Sicht machte es einfach in der Welt keinen Sinn. Bei einer Sabbatrunde ((Sabbat war die Gruppierung der Vampire, die eher das Tier in sich duldeten und feierten und daher die Menschen nur als Vieh betrachteten)) lief es auch mal ins Extreme hinaus, als die Spieler plötzlich meinten sich mit irgendwelchen Schlacht- und Foltermethoden gegenseitig übertrumpfen zu müssen.

Wenn die Spielgruppe es abklärt und damit einverstanden ist, untereinander zu intrigieren usw. kann es recht spaßig werden, aber die meisten Rollenspiel-Runden wollen doch eher ein miteinander als ein Gegeneinander innerhalb der Gruppe.

Reizen würde es mich mal eine Kultistenrunde bei Cthulhu o.ä. anzugehen. Ein im Wahnsinn gemeinsames Ziel in Form von "uralten Gott beschwören" könnte da recht interessant werden und würde auch eher auf ein Zusammenspiel hinauslaufen
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M_Effect
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Re: Warum spielen wir böse Charaktere?

Beitrag von M_Effect »

Danke für Deine ausführliche Antwort, Santiago :)
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Mercen
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Re: Warum spielen wir böse Charaktere?

Beitrag von Mercen »

Das ist mal eine spannende Frage und meine Meinung kommt wohl etwa spät. Aber egal. Die Kernfrage ist tatsächlich: Was ist böse?
Ist es der permanente Verstoß gegen das in der fiktionalen Welt vorherrschende Moralsystem? In einer Aztekenwelt wäre das Aussprechen gegen Menschenopfer zur Sicherung der Ernte wahrscheinlich nicht wohlgelitten. Die armen Bewohner eines Ork-Dorfes, welches von der Paladingruppe heimgesucht wird, sähen das Problem von Gut und Böse wahrscheinlich auch anders.
Ich glaube, wie Santiago es auch beschrieben hat, manchmal wollen die Spieler einfach mal die Sau rauslassen. Das ist aber nicht böse. Das ist unmoralisch, bzw. psychopathisch. Spieler oder deren Charaktere, die das ohne vorherige Absprache versuchen, werden meistens über kurz oder lang aus der Gruppe entfernt. Ich erinnere mich da an eine denkwürdige Gerichtsszene, die mit dem Hängen des Charakters endete. Oder die anderen Spieler haben denjenigen schlicht rausgeschmissen, weil es nicht witzig war.
Böse Charaktere, die ein Fernziel haben, also z.B. eine Baronie erwerben wollen und denen viele (nicht jedes) Mittel recht sind, dieses Ziel zu erreichen, können hingegen eine wertvolle Bereicherung im Spiel sein. Schließlich ist es ja deutlich schwieriger, eine solche manipulative Rolle zu spielen als den Helden in schimmernder Wehr. Nicht gut gelitten bei mir als Spielleiter ist der blutrünstige Massenmörder und hier schließe ich alle übertriebenen Paladinrollen mit ein. Man kann vielleicht so starten, aber wenn die Rolle nicht als lernfähig angelegt wurde, dann wird das nichts.
Es gab in der Zeitschrift "Dungeon" mal ein Miniabenteur "Monsterquest", in dem man die vorherrschenden Lieblingsmonster mal selber spielen konnte. Das war eine richtig gute Idee, um Spieler in jenen "Wir wollen mal die Sau rauslassen" Modus zu bringen. Danach war es dann auch wieder gut und das Thema abgehakt.
Ich schließe mich daher dem Fazit meines Vorredners an: Einer in der Gruppe, der kein Psychopath ist, kann funktionieren, eine komplette Kampagne ist zum Scheitern verurteilt.
Kein Plan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit den Spielern hinaus.
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